Artikel aus tiergestützte Ausgabe 2-2021

Zur Bedeutung der Mensch-Tier-Beziehung im Kontext von Wohnungslosigkeit

Beitrag von Marie Bergmann

Wohnungs- und obdachlose Menschen laufen als Adressat*innen professioneller (sozialarbeiterischer) Hilfe nicht all‘ zu selten Gefahr, als homogene Masse gesehen zu werden und der:die Einzelne als Individuum unterzugehen. Die „Lebenswirklichkeit Straße“ überdeckt somit andere soziale Kategorien und Strukturen, die wirksam sind und es zu bedenken gilt. Hierzu zählt auch ein häufig emotional diskutiertes Thema: Haustierbesitz in der Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Dieser Artikel möchte einen Überblick in Formen und mögliche Folgen des Zusammenlebens von Mensch und Tier „auf der Straße“ geben, ohne in einen solchen emotionalen Diskurs einzusteigen.

Einleitende Anmerkungen

Angesichts aktueller Entwicklungen im Kontext der COVID-19-Pandemie werden soziale Probleme, wie das der Obdach- und Wohnungslosigkeit, (wieder) zunehmend medial diskutiert (vgl. Feldbacher/Krasa 2020: 12f.). Für den wissenschaftlichen Diskurs der Sozialpädagogik und Sozialarbeit besitzen solche gesellschaftlichen Entwicklungen theoriegenerierende Bedeutung. Aber auch praktische, handlungsorientierte Fragen werden aus den aktuellen Bedingungen im professionellen Kontext abgeleitet: Welche Hilfe(n) existieren für wohnungslose Menschen? Welche Hilfen können etabliert werden, um betroffenen Menschen Perspektiven bieten zu können? Wie und unter welchen Umständen können disziplinübergreifende Hilfe(n) auch präventiv ansetzen?

Während sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive zunehmend differenzierter mit solchen Fragen rund um das etablierte System der Wohnungslosenhilfe auseinandergesetzt wird, bleibt der spezifische Blick auf die Adressat*innen oft aus oder verweilt auf einem sehr oberflächlichen Niveau. Hierzu zählen z.B. ältere wohnungslose Menschen (vgl. Brem 2018). Zu bemängeln bleibt dabei die Abkehr von einzelfallorientierten und biografisch-verstehenden Perspektiven hin (bzw. zurück) zu Defizit- und Problemzuschreibungen. In Tradition historischer Zugänge, z.B. der Zwangseinweisung in Zucht- und Arbeitshäuser, findet sich auch heute noch weitverbreitet der Mythos der individuell verschuldeten, selbst gewollten und therapierbaren Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit wieder (vgl. zum Überblick Wolf 2018). Dass jedoch strukturelle Bedingungen, wie sie etwa durch das Auftreten einer Pandemie geformt werden, maßgeblichen Einfluss auf den Verlust von Wohnraum und Obdach haben können, wird dabei oft argumentativ ausgeblendet.

Der vorliegende Artikel kann und will sich nicht zum Ziel setzen, solch grundlagentheoretische Fragen umfangreich zu erörtern. Vielmehr soll durch die ausführliche Einleitung in das Thema 1.) das Verständnis angeregt werden, dass es sich bei wohnungs- und obdachlosen Menschen, wie bei jeder sozialen Kategorisierung, nicht um eine homogene Gruppe handelt. Der Autorin ist es damit verbunden 2.) ein Anliegen, gängige Stereotype wohnungsloser Menschen als grundsätzlich (arbeits-)faul, bedürftig und verantwortungslos – dem Mythos der gewollten Wohnungslosigkeit folgend – aufzubrechen und kritisch zu hinterfragen. Im Zentrum des Artikels steht nachfolgend nicht, verschiedene Wege in die und aus der Wohnungslosigkeit ausführlich zu diskutieren. Vielmehr wird sich mit einem speziellen Aspekt des Lebens „auf der Straße“ befasst, der besonders im wissenschaftlichen Diskurs noch wenig Beachtung findet, für die Umsetzung professioneller und lebensweltlich orientierter Hilfen jedoch bedeutsam ist: Tierhaltung, Tierbesitz und damit die Mensch-Tier-Beziehung im Kontext von Wohnungs- und Obdachlosigkeit.

Zu den verwendeten Begrifflichkeiten – Obdachlos, Wohnungslos, Wohnungsnotfall

Im professionellen Sprachgebrauch unterscheiden und entfalten sich die Begriffe „Wohnungslosigkeit“ und „Obdachlosigkeit“ entlang rechtlicher Zuständigkeiten. Als obdachlos gilt, wer über keinen (mietvertraglich) abgesicherten Wohnraum verfügt. Die Kommunen sind ordnungsrechtlich verpflichtet, dies zu verhindern, indem sie Hilfen bereitstellen, z.B. Übernachtungshäuser (vgl. Lutz et al. 2017: 97). Als wohnungslos gelten demgegenüber Personen, welche zusätzlich „von sozialen Schwierigkeiten betroffen sind, die eine sozialarbeiterische Maßnahme zur Wiedereingliederung erforderlich machen“ (ebd.: 98), sodass die Ansprüche wohnungsloser Menschen im Sozialgesetzbuch rechtlich verankert sind (vgl. Wolf 2018: 1855). Diese besonderen Lebensumstände umfassen z.B. sozial-kulturelle Teilhabe, einkommens- oder arbeitsplatzbezogene Dimensionen. Der Begriff des Wohnungsnotfalls versucht diese künstliche Begriffstrennung zu umgehen und den Fokus auf den fehlenden und/oder gefährdeten Wohnraum als Auslöser des Problems zu legen, hat sich in der Fachdebatte jedoch nur bedingt durchgesetzt (vgl. u.a. Gerull 2009: 37f.).

Wohnungslos in Deutschland – Zur Datenlagen

Schätzungen zeigen, dass in Deutschland ein deutlicher Anstieg wohnungsloser Menschen zu verzeichnen und zukünftig anzunehmen ist (vgl. Wolf 2018: 1857). Dabei ist man weiterhin auf Spekulationen angewiesen, da keine offiziellen oder staatlichen Statistiken zu Wohnungsnotfällen und wohnungslosen Menschen existieren (vgl. ebd.).  Einen Anhaltspunkt liefern die jährlichen Statistikberichte der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG-W), sowie der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) regelmäßig veröffentlichte Armuts- und Reichtumsbericht. Für das Jahr 2018 wird die Gesamtanzahl an Wohnungsnotfällen in Deutschland auf knapp 700.000 geschätzt (vgl. BMAS 2020: o.S.). Nach Einschätzung von Expert*innen ist jedoch von einer wesentlich höheren Dunkelziffer auszugehen – so werden etwa geflüchtete Menschen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus als separate Personengruppe nicht mitgezählt (vgl. Gerull 2009: 38).

Wege in die Wohnungslosigkeit

Auch wenn vorliegend der Fokus nicht auf den verschiedenen Wegen in die und mögliche (Aus-)Wege aus der Wohnungslosigkeit liegen soll, ist es im Hinblick auf das hier im Interesse stehende Thema der Mensch-Tier-Beziehung durchaus relevant, sich möglichen Ursachen zuzuwenden: Es liegen nicht nur je unterschiedliche Gründe für die Wohnungslosigkeit, sondern auch verschiedene Hilfebedarfe vor, die es zu berücksichtigen gilt, denn oft sind Betroffene Träger*innen multipler Problemlagen. „Fast immer liegt ein Bündel von Ursachen vor, die sich gegenseitig verstärken und sich individuell und biographisch unterschiedlich herausbilden“ (Lutz et al. 2017: 110).  Neben fehlendem Wohnraum offenbaren sich diese Problemlagen in den Bereichen allgemeiner Armut, fehlender bzw. prekärer Beschäftigungsverhältnisse, Gewalterfahrungen, mangelnder Gesundheitsversorgung und damit einhergehender Krankheit (psychisch und physisch) sowie – und das nicht zuletzt – dem Verlust sozialer Netzwerke und damit sozio-emotionaler Unterstützung und Hilfe (vgl. ebd.: 109f.). In diesem Kontext kann eine Vielzahl zumeist qualitativer und rekonstruktiver Studien aufzeigen, dass eine Kombination mehrerer Umstände in die Wohnungslosigkeit führen, fehlender sozialer Rückhalt neben finanziellen Schwierigkeiten jedoch einen der gravierendsten und häufigsten Auslöser darstellt: Das Fehlen eines sozialen Netzwerkes, welches entscheidende Bewältigungsressourcen angesichts kritischer Ereignisse hervorbringen kann, zeigt sich kurz vor der Wohnungslosigkeit oft verbunden mit sozialer Desintegration, Isolation und Einsamkeit. Auch in der Wohnungslosigkeit stellt der fehlende sozio-emotionale Rückhalt (freundschaftlich, familiär, partnerschaftlich, aber auch professionell) eine zentrale Bewältigungsherausforderung dar, die ein erfolgreiches Überwinden der prekären Lebenslage noch erschwert (vgl. Brem 2018: 313f.; Ratzka 2012: 1234).

Aber auch (zumeist implizit) an wohnungslose Menschen herangetragene Zuschreibungen und Stereotypen können das Entstehen und den Verbleib in der Wohnungslosigkeit zu einem Teil beeinflussen. Diese äußern sich u.a. auch in einer unterstellten generellen (Hilfs-)Bedürftigkeit. Daher ist es besonders für wohnungslose Menschen schwer, Hilfe anzunehmen, da sie zwar Hilfebedarfe aufzeigen, „aber sich nicht hilfsbedürftig fühlen“ (Böhnisch 2017: 227). Die so teilweise ablehnende Haltung gegenüber und Nichtinanspruchnahme von etablierten Hilfen kann dabei zu professionellem Unverständnis führen (ebd.: 228). Solche Annahmen, das Gegenüber sei aufgrund ihrer*seiner Lebenslage der Fachkraft in einem hierarchisch verstandenen Beratungs- und Unterstützungsprozess unterlegen, prägen auch heute z.T. die sozialpädagogische Arbeit mit wohnungslosen Menschen. Auch an dieser Stelle sei an die vielfältige und disziplinübergreifende Forschungslandschaft zum Thema der Wohnungslosigkeit aus Perspektive der Adressat*innen verwiesen.

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass sowohl das Fehlen eines sozialen Netzwerkes als auch das Stigma der*des Hilfsbedürftigen (und das Abwehren dieser Zuschreibung) zentrale Ursachen sein können, die in die Wohnungs- und Obdachlosigkeit führen sowie deren Überwinden erschweren können.

Interessierte Leser*innen seien auf folgende Studien verwiesen, die sich explizit mit Ursachen von Wohnungs- und Obdachlosigkeit auseinandersetzen und meist die Adressat*innen-Perspektive fokussieren: Busch-Geertsema et al. 2019 zu Entstehung, Verlauf und Struktur von Wohnungslosigkeit; von Paulgerg-Muschiol 2009 zu Wegen in bzw. Ursachen von Wohnungslosigkeit; Gerull 2016 zu Wegen aus der Wohnungslosigkeit.

Tierhaltung in der Wohnungslosigkeit

Da keine offiziellen Statistiken zur Wohnungslosigkeit in Deutschland existieren, verwundert es zunächst nicht, dass ebenfalls keine exakten Daten zur Tierhaltung auf der Straße vorliegen. Schätzungen zufolge sind 15% der von den Tiertafeln versorgten Tierhalter*innen wohnungslos (vgl. Bodenmüller 2012: 202). Sozialarbeitende erleben in ihrem beruflichen Alltag subjektiv ebenfalls einen hohen Anteil von Tierhalter*innen – in Düsseldorf waren 2009 von 1200 wohnungslosen Menschen etwa 200 im Besitz eines Tieres (vgl. ebd.; Asphalt e.V./fiftyfifty 2009: 4). Besonders häufig leben Hunde mit obdachlosen Menschen zusammen. Dabei kommen jedoch auch Kleintiere wie Ratten, Mäuse oder Frettchen vor, seltener Katzen (vgl. Bodenmüller 2012: 202). Auch wurde im professionellen Kontext schon länger beobachtet, dass der Besitz v.a. eines Hundes ein nicht unwesentlicher Hinderungsgrund ist, Angebote der Wohnungslosenhilfe in Anspruch zu nehmen, etwa bezogen auf Vermittlungen in Wohnprojekte und andere Wohnformen, vornehmlich Notunterkünfte und Übernachtungshäuser (vgl. ebd.: 207f.). Hierauf wird durchaus reagiert: So veröffentlichte z.B. die Berliner Kältehilfe einen kostenlosen Wegweiser für den Winter 2019/2020, welcher alle (teil-)stationären Einrichtungen sowie ambulanten Hilfen und Unterstützungsangebote für wohnungs- bzw. obdachlose Menschen in der Stadt listet und u.a. ausweist, ob hier Tiere geduldet/erwünscht sind (vgl. GEBEWO pro 2019). Dennoch akzeptiert der Großteil der Einrichtungen keine Hundehaltung, sodass neben anderen Gründen auch die befürchtete Trennung vom Haustier den niedrigschwelligen Einstieg in das Hilfesystem verhindert (vgl. u.a. Bodenmüller 2012: 208).

Die Bedeutung der Mensch-Tier-Beziehung in der Wohnungslosigkeit

Die existentielle Notlage obdachloser Menschen, die mehr als prekären Lebensverhältnisse und Problemlagen, Risiken und Gefahren, denen sie sich tagtäglich aussetzen müssen, werfen in Bezug auf die Tierhaltung kontrovers und hoch emotional geführte Diskussionen und Fragen auf: „Unter diesen Bedingungen scheint es zunächst verwunderlich, wenn Wohnungslose auch noch ein Haustier besitzen und dieses mitversorgen“ (ebd.: 201). Warum werden besonders im „sozialen Milieu Obdachlosigkeit“ so viele Tiere – und zwar vornehmlich Hunde – gehalten? Bei der Beantwortung hilft der Blick auf die bereits genannten, möglichen Ursachen von Wohnungslosigkeit, indem diese mit Theorien der Mensch-Tier-Beziehung verbunden und unter dieser Folie betrachtet werden.

Generell ist mit Fokus auf die Tierart Hund festzuhalten, dass dieser evolutionsgeschichtlich bereits sehr lange mit dem Menschen zusammenlebt und sich u.a. Verhaltensbiolog*innen und -etholog*innen mit der evolutionären Anpassung von Mensch und Hund (im Allgemeinen dem Säuge- und Wirbeltier) auseinandersetzen (vgl. zum Überblick Julius et al. 2014). Auf dieser wissenschaftlichen Grundlage erwächst somit die Erklärung des Lebens mit- und nicht nebeneinander – Mensch und Hund sind in der Lage, artübergreifende und bindungsähnliche Beziehungen miteinander einzugehen und aufzubauen (vgl. ebd.): „Hunde erfüllen im Zusammenleben mit Menschen vielfältige soziale Funktionen und werden aus unterschiedlichen Gründen gehalten“ (Bodenmüller 2012: 203). Dies gilt auch und insbesondere für Wohnungslose.

Gründe und Ebenen des Tierbesitzes in der Wohnungslosigkeit

Funktional-rationale Gründe – Schutz, Sicherheit und Einkommen

Das Leben auf der Straße ist geprägt von einer hohen Exponiertheit der Betroffenen. Das Fehlen eines sicheren Wohnraums äußert sich nicht nur in mangelnder Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten, sondern auch in einer öffentlichen Schutzlosigkeit der eignen Person (vgl. u.a. Gerull 2009). Neben Diebstahldelikten sind obdach- und wohnungslose Menschen somit einer wesentlich höheren Gefahr ausgesetzt, emotional sowie körperlich angegriffen zu werden. In Rückbezug zu einer umfassenden lebensgeschichtlichen Befragung wohnungsloser Menschen hält Bodenmüller diesbezüglich fest: Für Menschen, „die alleine im Freien übernachten, übt der Hund eine wichtige Schutzfunktion aus. […] In Streit- und Konfliktsituationen nehmen Hunde Bedrohungen und Angriffe gegen ihre Besitzer/innen wahr und reagieren darauf. Viele greifen bei körperlichen Auseinandersetzungen ein und verteidigen ihre Halter/innen“ (Bodenmüller 2012: 203). Zeitgleich ist der Hund eine nicht unwesentliche Hilfe beim Betteln – einer der wenigen (legalisierten) Einnahmequellen wohnungsloser Menschen. Die Anwesenheit eines Hundes weckt hierbei Vertrauen, Mitgefühl und fördert die Spendenbereitschaft:

„Weil, wenn du ‘n Hund dabei hast, der verdient das Geld, nicht du. Da verdient immer der Hund das Geld. Weil die Leute haben in dem Moment jetzt Mitleid mit dem Hund, nicht mit dir als Menschen. Als Mensch kannste verrecken, aber mit dem Hund ha’m se Mitleid“ (Simon 1996: 258).

Die reine Anwesenheit eines Hundes fördert darüber hinaus auch die zwischenmenschliche Kommunikation. Diese Funktion des Anregens sozialer Interaktion und Kommunikation ist ein bereits umfangreich beschriebener Wirkeffekt der Mensch-Tier-Beziehung (das Tier als Eisbrecher oder sozialer Katalysator, vgl. u.a. Julius et al. 2014: 65), der auch in der Wohnungslosigkeit von Bedeutung ist. Hierdurch wird der Aufbau sozialer Beziehungen ermöglicht, welche in krisenhaften Situationen Rückhalt und Unterstützung liefern können, zu denen auch die soziale Isolation und Desintegration in der Lebenslage Obdachlosigkeit gehört.

Soziale und emotionale Unterstützung – Das Umdenken von Hilfe

Aber auch die Ausbildung einer positiven Beziehung zum Tier selbst bietet dem (wohnungslosen) Menschen Unterstützung, sowohl auf sozialer als auch emotionaler Ebene: „Tiere bieten für viele Menschen soziale Unterstützung im Alltag und vor allem in schwierigen Lebenssituationen, in denen soziale Beziehungen zu anderen Menschen nicht immer in ausreichender Zahl bestehen“ (Nestmann et al. 2016: 23). Der Hund als Partner im Leben auf der Straße gibt somit nicht nur rein funktional ableitbare Sicherheit, sondern agiert als Zuhörer und Gesprächspartner:

„Den Hund hab ich jetzt seit anderthalb Jahren. Das ist mein bester Kollege. Mit dem lebe ich zusammen. Mit dem teile ich mir eigentlich so gut wie alles“ (Bodenmüller/Piepel 2003: 164).

Das Tier bleibt dabei durch seine analoge Kommunikationsform authentisch und wertfrei – dies ist besonders im Kontext von Obdachlosigkeit relevant. Die Authentizität und Unvoreingenommenheit von Tieren, auch als Aschenputteleffekt beschrieben, kann Selbstsicherheit, Selbstbewusstsein und das Gefühl, angenommen zu werden, stärken und so die Entstehung von Selbstzweifeln sowie Minderwertigkeitsgefühlen verhindern (vgl. Nestmann et al. 2016: 60).

Grundlegend können Haustiere als alltägliche Helfer auftreten, ohne hierbei den wohnungslosen Menschen als hilfesuchend zu stigmatisieren, da diese Unterstützung nicht intendiert, beiläufig gegeben und in Anspruch genommen wird. Die besonders im professionellen Kontext eher negativ besetzte Hilfebeziehung kann so im Tierkontakt umgedeutet, Hilfe als etwas Wechselseitiges empfunden werden, sodass der Mensch als Versorger*in Hilfe gibt, nicht nur empfängt. Tiere können spezifische Schwierigkeiten umgehen, welche mit zwischenmenschlichen und professionellen Hilfeleistungen verbunden sind, etwa den (befürchteten) Kontrollverlust als Hilfeempfänger*in, Schuld- oder Verpflichtungszuweisungen sowie unerwünschte Hilfs- und Unterstützungsleistungen (vgl. ebd. 65). Als zentrales Merkmal der Mensch-Tier-Hilfebeziehung kann hierbei hervorgehoben werden, „dass die Interaktionssituation nicht als eine ‚Hilfe‘-Konstellation definiert wird“ (ebd.) – ganz gegensätzlich zu hilfebezogenen Interaktionen mit professionellen Helfer*innen oder auch Angehörigen des eigenen soziokulturellen Milieus.

Die hier angesprochene sozialpsychologische Dimension der Unterstützungsfunktion von Tieren kann dazu beitragen, soziale Isolation und Desintegration sowie Gefühle von Einsamkeit zu reduzieren, auch indem das Bedürfnis nach enttabuisiertem Körperkontakt befriedigt und Geborgenheit vermittelt wird. Durch die Intimität, die die Beziehung zu einem Tier geben kann und die Herstellung sozialer Kontakte über die Tiere, können Wohlbefinden und allgemeine Lebensqualität erhöht werden. Besonders emotionale Unterstützung stabilisiert dieses alltägliche Wohlbefinden und fördert somit Bewältigungsressourcen und -kompetenzen (vgl. ebd.: 61).

In Rückbezug zu den anfangs erörterten Ursachen von Obdach- und Wohnungslosigkeit zeigt sich somit die hohe Bedeutung der Tierhaltung für wohnungslose Menschen: Angesichts des fehlenden sozialen und emotionalen Rückhalts sowie des Stigmas der*des Hilfsbedürftigen scheint die Zuwendung v.a. zum Hund als Sozialpartner auf der Straße nachvollziehbar. Die Gründe, welche in diese prekäre Lebenssituation führen können, finden in der Psychologie der Mensch-Tier-Beziehung in gewisser Art ihren Gegenpol. Dass besonders innige, bindungsähnliche und von Fürsorge geprägte Beziehungen zu v.a. Hunden möglich sind, ist in diesem Kontext unweigerlich auch der Grund, wieso viele vom Verlust ihres Wohnraums Betroffene ihre Haustiere nicht an Institutionen, Familie oder Freund*innen abgeben.

Tierethik, Tierschutz und Tierwohl​

Wird über Tierbesitz und Tierhaltung obdach- bzw. wohnungsloser Menschen diskutiert, werden ebenfalls tierethische und tierschutzrechtliche Dimensionen thematisiert. Neben bereits angesprochener, positiver Aspekte von v.a. Hundehaltung in der Wohnungslosigkeit, drängen sich vielerorts auch Skepsis bis Ablehnung auf – wie kann ein Mensch in solch einer problematischen und prekären Lebenssituation angemessen für ein Tier sorgen?

Zunächst sei auf finanzielle Aspekte der Tierhaltung eingegangen. Auch wenn durch den Besitz eines Hundes mitunter höhere Einnahmen beim Betteln erzielt werden können, bedarf es finanzieller Mittel, um Tierfutter, Hundesteuer und insbesondere tierärztliche Untersuchungen und Routinebesuche abdecken zu können. Die monatlichen Grundkosten für eine adäquate Hundehaltung liegen bei ca. 80-120€, ein Betrag, der besonders für Wohnungslose sehr hoch ist (vgl. Bodenmüller 2012: 207f.). Dass wohnungslose Menschen sich grundsätzlich nicht ausreichend und dem Tierwohl gemäß um ihren Hund kümmern können, ein Hund auf der Straße gequält werde, ist jedoch als Vorurteil zu deklarieren (vgl. ebd.: 206). Mitunter Erfahrungsberichte verschiedener Sozialarbeiter*innen, die im Streetwork tätig sind sowie Ehrenamtlicher, welche etwa bei Tiertafeln arbeiten, dokumentieren, dass sich generell gut bis sehr gut um die Tiere gekümmert werde – sowohl bezüglich der generellen Haltung als auch sozial und emotional:

„Gerade das Leben auf der Straße bedeutet für den Hund meist ein intensives Zusammenleben mit dem Menschen. Denn der oder die Wohnungslose hat im Gegensatz zu einem Besitzer, der mehrere Stunden täglich arbeitet, den ganzen Tag Zeit für den Hund. Die meisten Wohnungslosen nehmen daher Bedürfnisse und Belange des Hundes direkt wahr und räumen ihnen einen hohen Stellenwert ein“ (ebd.).

Auch wenn wohnungslose Menschen ihren Hund nicht abgeben wollen, können sie doch vermehrt in Situationen kommen, in denen sie dies zwangsläufig machen müssen: „Ein Wohnungsloser mag auf den Aufenthalt in einer Übernachtungseinrichtung verzichten, weil er den Hund nicht mitnehmen kann, aber im Falle einer Inhaftierung oder Einweisung in die Psychiatrie werden Hund und Halter/in zwangsläufig getrennt“ (ebd.: 207). Und auch wenn die Hundehaltung auf der Straße prinzipiell im Sinne des Tierwohls und Tierschutzes gestaltet werden kann, sind es doch besonders fehlendes Wissen und finanzielle Hürden, welche nur mit Hilfe von außen bewältigt werden können. Daher existiert eine immer größere Vielzahl an Hilfsangeboten für die Tiere selbst, etwa mobile und ehrenamtliche Tierärztinnen und Tierärzte, die kostenlose Untersuchungen und spendenfinanzierte Medikamente anbieten – oder Futterausgaben von Tiertafeln, etwa in Magdeburg. Zunehmend werden tierverträgliche Wohnprojekte initiiert; auch einige stationäre, zum Großteil therapeutische Einrichtungen, ermöglichen es ihren Patient*innen, ihre Hunde mitzubringen (vgl. ebd.: 212).

Ausblick

Der vorliegende Artikel kann nur einen kleinen Einblick in die Bedeutung der Tier-Mensch-Beziehung im Kontext von Wohnungs- und Obdachlosigkeit bieten und die Leser*innen zum Nachdenken anregen. Weder soll die Tierhaltung auf der Straße romantisiert oder generell verteidigt werden noch den wohnungslosen Menschen grundsätzlich verwehrt werden, Hunde oder andere Haustiere zu halten. Wenn vermeintliche, (tier-)ethische Zweifel angeführt werden, um allen wohnungslosen oder auch einkommensschwachen, in prekären Lebenslagen befindlichen Personen das Recht auf Tierhaltung abzusprechen – oder ihnen gar Tierquälerei oder verantwortungsloses Verhalten vorzuwerfen – muss der gesamtgesellschaftliche Umgang mit Tieren ebenfalls reflektiert werden. Als Beispiel sei hier etwa auf unser sehr selektives Verhalten gegenüber verschiedenen Tierarten verwiesen (vgl. u.a. Buchner-Fuhs/Rose 2012: 21). „Moralisches Zeigefingerheben“ ist nach Ansicht der Autorin weder angebracht noch zielführend. Stattdessen soll abschließend noch einmal, mit Blick auf die in der Wohnungslosenhilfe aktiven Professionen, klar festgehalten werden:

„Weder der Ausschluss von Hunden noch
der fokussierte Blick auf das Tier wird den wohnungslosen Hundehalter/innen in
umfassender Weise gerecht. Es gilt die große Bedeutung des Haustiers zu
berücksichtigen und anzuerkennen, welche Rolle das Tier nicht nur während des
Lebens auf der Straße, sondern auch in Phasen des Übergangs und der
Stabilisierung einnimmt. Denn insbesondere, wenn Wohnungslose sich aus der Szene
zurückziehen wollen, […] kann die Beziehung zum Hund eine wertvolle Stütze sein:
[…] Kompetenz, Selbstbewusstsein, Schutz und Tagesstruktur können wertvolle
Ressourcen für Menschen sein, die sich von den Hilfeeinrichtungen abgewendet
haben oder abgewiesen wurden. Die Einbeziehung und Förderung dieser Ressourcen
durch das Hilfesystem verspricht eine Chance zur Integration, die es
wahrzunehmen gilt“ (Bodenmüller 2012: 211-214).

 

Literatur (Auswahl)

Asphalt e.V./fiftyfifty (2009): Ziel- und Maßnahmenplan im Rahmen des NRW-Landesprogramms Wohnungslosigkeit vermeiden – Dauerhaftes Wohnen sichern. Projektbericht 01.07.08–01.04.09. Düsseldorf.

Buchner-Fuhs, Jutta/Rose, Lotte (2012): Warum ein Buch zu Tieren in der Sozialen Arbeit? Eine kritische
Bestandsaufnahme zur Thematisierung der Tiere in diesem Berufsfeld. In: Dies. (Hrsg.): Tierische Sozialarbeit. Ein Lesebuch für die Profession zum Leben und Arbeiten mit Tieren. Wiesbaden, 9-21.

Bodenmüller, Martina (2012): Hunde auf der Straße – Gefährten für wohnungslose Menschen. In: Buchner-Fuhs, J./Rose, L. (Hrsg.): Tierische Sozialarbeit. Ein Lesebuch für die Profession zum Leben und Arbeiten mit Tieren. Wiesbaden, 200-214.

Bodenmüller, Martina/Piepel, Georg (2003): Streetwork und Überlebenshilfen – Entwicklungsprozesse von Jugendlichen aus Straßenszenen. Weinheim, Berlin, Basel.

Böhnisch, Lothar (2017): Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung. 7., überarbeit. Aufl. Weinheim, Basel.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2020): Armuts- und Reichtumsbericht. Indikator Wohnungslosigkeit. Online unter: https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Indikatoren/Armut/ Wohnungslosigkeit/wohnungslosigkeit.html, letzter Zugriff am 10.05.2021.

Busch-Geertsema, Volker/Henke, Jutta/Steffen, Axel/Reichenbach, Marie-Therese/ Ruhstrat, Ekke-Ulf/Schöpke, Sandra/Krugel, Nadine (2019): Entstehung, Verlauf und Struktur von Wohnungslosigkeit und Strategien zu ihrer Vermeidung und Behebung. Endbericht. Im Auftrag des BMAS. Bremen.

GEBEWO pro (2019) (Hrsg.): Berliner Kältehilfe – Wegweiser 2019/2020. Berlin.

Gerull, Susanne (2009): Armut und soziale Ausgrenzung wohnungsloser Menschen. In: Sozial Extra 5-6, 37-41.

Gerull, Susanne (2016): Wege aus der Wohnungslosigkeit. Eine qualitative Studie aus Berlin. Berlin.

Julius, Henri/Beetz, Andrea/Kotrschal, Kurt/Turner, Dennis C./Uvnäs-Moberg, Kerstin (2014): Bindung zu Tieren. Psychologische und neurobiologische Grundlagen tiergestützter Interventionen. Göttingen u.a.: Hogrefe.

Lutz, Ronald/Sartorius, Wolfgang/Simon, Titus (2017): Lehrbuch der Wohnungslosenhilfe. Eine Einführung in Praxis, Positionen und Perspektiven. 3., überarb. Aufl. Weinheim, Basel.

Nestmann, Frank/Wesenberg, Sandra/Beckmann, Antje (2016): Die Beziehung von Mensch und Tier und ihre gesundheitsförderliche Wirkung von der Kindheit bis ins Alter. In: Dies./Holthoff-Detto, Vjera (Hrsg.): Tierische Tandems. Theorie und Praxis tiergestützter Arbeit mit älteren und demenzerkrankten Menschen. Grundlagen, Bd. 1. Tübingen, 15-80.

Ratzka, Melanie (2012): Wohnungslosigkeit. In: Albrecht, G./Groenemeyer, A. (Hrsg.): Handbuch soziale Probleme. 2., überarb. Aufl. Wiesbaden, 1218-1252.

Simon, Titus (1996) (Hrsg.): Standards in der Wohnungslosenhilfe. Ergebnisse einer bundesweiten Untersuchung. Bielefeld.

Von Paulgerg-Muschiol, Larissa (2009): Wege in die Wohnungslosigkeit. Eine qualitative Untersuchung. Dissertationsschrift. Siegen.

Wolf, Andreas (2018): Wohnungslosigkeit. In: Otto, H./Thiersch, H. (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. 6. Aufl. München, 1854-1862.

Marie Bergmann, Sozialpädagogin (M.A.) und Fachkraft für tiergestützte Intervention; mehrjährige Erfahrung in TGI-Praxis sowie -Theorie (Vorträge und Seminare zum professionellen Tiereinsatz); Mitarbeit in der Straßensozialarbeit des „Hilfebus“ vom Suchtzentrum der Stadt Leipzig (bis 2020)